Hartz IV und Steuern

Auf den ersten Blick haben die Regelleistungen für Hartz IV und das deutsche Steuersystem nicht viel miteinander zu tun – sie schließen sich ja praktisch aus: Man steht auf der einen oder auf der anderen Seite. Oder? Nun, da gibt es sehr vieles, was man diskutieren kann, auch von Seiten der Steuerpolitik. Ich habe das unten mal probiert. Das erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, nicht einmal auf Richtigkeit, denn einiges davon ist auch einfach meine Meinung. Aber die halte ich in diesem Zusammenhang ja durchaus für fundiert ... Einen Teil der Themen unten habe ich bereits für ein Magazin für Steuerberater aufgearbeitet. Ich nutze diese Texte hier erneut, mit freundlicher Genehmigung des Verlages. - Fangen wir mit der einfachsten Frage an:

Zahlen Hartz-IV-Empfänger Steuern?
Das ist keine ganz einfache Frage – aber es gibt eine klare Antwort. Aber der Reihe nach: Lohn- oder Einkommensteuer zahlen Transferempfänger natürlich nicht. Die Sozialverbände und politischen Parteien, die sich für die Interessen von sozial Schwachen einsetzen, sind sich dennoch sicher: Ja, Transferempfänger zahlen Steuern! Denn die Mehrwertsteuer (und andere Konsumsteuern) zum Beispiel an der Supermarktkasse treffe doch jeden Konsumenten. Vielfach wird gesagt, Transferempfänger und Niedrigverdiener seien dadurch sogar besonders belastet, weil der Konsumanteil bei niedrigen Einkommen besonders hoch sei. Das ist nicht ganz richtig, weil bei niedrigen Einkommen auch der Bedarf an Gütern besonders hoch ist, der mit dem niedrigen Steuersatz belastet wird (z.B. Grundnahrungsmittel). Darüber hinaus macht die Miete, die nicht mehrwertsteuerpflichtig ist, hier einen besonders hohen Anteil an den Monatsausgaben aus. Aber wir wollen nicht abschweifen. Für Niedriglöhner jedenfalls mag die Lage damit im Wesentlichen beschrieben sein.

Aber für Transferempfänger muss man noch tiefer einsteigen: Ihr Satz wird, und die Anforderungen an die Berechnungsregeln dazu hat das Bundesverfassungsgericht nochmals verschärft, nach ihrem Bedarf bestimmt. Was geschähe nun bei einer Mehrwertsteuererhöhung? Alle Lohnempfänger würden dadurch erst einmal tatsächlich mehr belastet, ihre Steuerquote würde zu Lasten des Konsums steigen – während der Satz der Hartz-IV-Empfänger – grundgesetzlich erzwungen – angepasst werden müsste. So gesehen zahlen sie keine Steuern, die Mehrwertsteuer ist für sie, ähnlich wie für Unternehmen, sozusagen ein durchlaufender Posten: Der Staat zahlt letztlich die Steuern an sich selbst. Beim Konsum wird der Transferempfänger damit nicht belastet. Steuer ist, konsequent zu Ende gedacht, immer Konsumverzicht des Einzelnen zugunsten der Gemeinschaft – nichts anderes.

Dazu noch eine Randbemerkung: Diese Betrachtung hat vereinzelt schon zu der Annahme geführt, Beamte und Staatsangestellte zahlten auch keine Steuer – denn auch hier fließt das Geld ja nur zwischen dem Staat und seinem Diener hin und her: rechte Tasche, linke Tasche. Das ist rein rechnerisch korrekt, die Sachlage ist hier aber anders als bei Transferempfängern: Der Staatsdiener erbringt eine Leistung, für die er einen Nettolohn erhält, der im Wesentlichen dem eines vergleichbaren Angestellten in der freien Wirtschaft entspricht.

Die Steuerzahlung der Beamten ergibt sich also daraus, dass sie im Grunde genauso auf einen gewissen Teil ihres Konsums verzichten, indem ihre Bezüge entsprechend gestaltet sind. Diese Schlussfolgerung wird zwar immer wieder mit dem Hinweis auf die geldwerten Sonderrechte der Beamten (wie Unkündbarkeit, zusätzliche Sozialleistungen wie Beihilfe etc.) in Frage gestellt, aber diesen Sonderrechten stehen durchaus besondere Pflichten gegenüber (besondere Anforderungen an Loyalität und Zuverlässigkeit, gerade bei hoheitlichen Aufgaben, kein Streikrecht, mögliche Einschränkung von Grundrechten etc.).

Sozialstaat und Steuerlast
Es gibt noch weitere Verbindungen zwischen Steuererhebung und Sozialstaat. Der wirtschaftliche Aspekt liegt auf der Hand: Sozialleistungen sind nur möglich, wenn andere dafür bezahlen, und das läuft eben über Steuern (wobei das - leider - nicht vollständig so ist: Ein Teil der Sozialtransfers läuft auch über die Versicherungssysteme, was eigentlich keinen Vorteil hat, aber die Intransparenz des Systems enorm erhöht - siehe unten). Aber der Wesenskern des Transfersystems ist das Steuerrecht: Also muss der Staat seine Bürger dazu motivieren, sich nicht einfach auf Transferzahlungen zu verlassen. Denn die verfassungsmäßig garantierten Rechte auf Grundversorgung, abgeleitet vom Recht auf ein würdiges Dasein, haben durchaus ökonomische Grenzen: Wenn keiner mehr arbeitet, hat der Staat auch nichts, das er verteilen könnte – und daran könnte auch das Verfassungsgericht nichts ändern. In der Gesellschaftstheorie spricht man gerne vom Diogenes-Paradox oder vom Böckenförde-Diktum, benannt nach Ernst-Wolfgang Böckenförde, der von 1983 bis 1996 Verfassungsrichter in Karlsruhe war. Es ist kein Zufall, dass ein renommierter Staats- und Verwaltungsrechtler sowie Rechtsphilosoph wie Böckenförde sich mit solchen Grundfragen auseinandergesetzt hat. Es ist auch kein Zufall, dass ein weiterer berühmter Verfassungsrechtler das erkannt und zu einem seiner wesentlichen Aussagen gemacht hat: Der Steuerrechtsprofessor Paul Kirchhof hat in einer Festrede am Collegium Borromaeum in Münster im Jahr 2005 den Kern des Gedankens so formuliert: „Würde die Mehrzahl der Menschen in Deutschland sich entscheiden, als Diogenes in der Tonne zu leben, sich also um Ökonomie nicht zu kümmern, hätte niemand das Recht verletzt, weil auch diese Entscheidung Inhalt der Freiheit ist. Die soziale Marktwirtschaft, der Steuer- und Finanzstaat, wären aber an ihrer eigenen Freiheitlichkeit zugrunde gegangen.“

Auf einen Gedanken möchte ich noch zurückkommen: Steuern als Konsumverzicht des einzelnen zugunsten aller. Im Idealfall bekommt der Steuerpflichtige dafür mehr zurück, als er bezahlt, jedenfalls wenn alles richtig läuft: Soll doch der Staat nur dann tätig werden, wenn er es besser kann als der einzelne. Es muss uns also mehr wert sein als unsere Steuerleistung, wenn wir von Garmisch-Partenkirchen nach Flensburg fahren können, ohne jedem einzelnen Grundstücksbesitzer oder Straßenbauer auf dem Weg einen Zoll entrichten müssen, oder auch: Wenn wir vor Gericht gehen können und der Staat unser Recht dann auch effektiv durchsetzt. Rechtssicherheit, Infrastruktur, innere und äußere Sicherheit, eine gewisse soziale Absicherung – das sind die Gegenleistungen, die uns rund ein Viertel des Bruttogehalts (bei Normalverdienern) – na ja, sagen wir: knapp die Hälfte des Bruttogehalts (die Sozialabgaben eingerechnet, für die wir ja nur zum Teil Gegenleistung erhalten) Wert sein sollten. Das ist jedenfalls das beste Argument gegen Steuerhinterziehung, das ich kenne.

Die Steuerlast
Eine kurze Randbemerkung zur Steuerlast: Wegen der Progression ist diese sehr unterschiedlich, wer also normal verdient und zum Beispiel den Effekt des Absetzens abschätzen will, der liegt mit 25 bis 30 Prozent am Lohnanteil nicht falsch. Effektiv ist der Steuerlast aber höher, weil wir dazu ja auch die Mehrwertsteuer rechnen müssen (die ebenfalls mehrere Stufen umfasst - von Null bei der Miete über 7 Prozent zum Beispiel für Nahrungsmittel [beides zum Vorteil für Geringverdiener!] bis zu 19 Prozent für die meisten anderen Güter, dazu noch ein paar exotische Varianten, zum Beispiel für landwirtschaftliche Produkte). Und wir müssen ehrlicherweise einen Teil der Sozialleistungen als Steuern verbuchen - zum Beispiel den Anteil, den Besserverdienende, die in der Krankenkasse versichert sind, mehr bezahlen müssen als Geringverdiener, denn dafür erhalten sie keinen Gegenwert wie bei einer echten Versicherung. Insgesamt fährt man ganz gut, wenn man als wirklichen Durchschnittswert für die Steuerberlastung die Staatsquote heranzieht - und die liegt derzeit bei 48 Prozent. Und man kann sogar argumentieren, dass die Steuerbelastung höher liegt: So verteuert zum Beispiel die vom Staat gesetzlich festgelegte Subvention für Photovoltaikanlagen den Strom in jedem Haushalt - da dies die Folge eines gesetzlichen Regel-Eingriffs ist, die vom Gesetzgeber sowohl Anbietern als auch Verbrauchern aufgezwungen wird, hat diese Zusatzabgabe tatsächlich den Charakter einer Steuer - auch wenn der Gesetzgeber das in den wirtschaftlichen Bereich verlagert hat.
Wer verstanden hat, wie die wahre Steuerbelastung gelagert ist, begreift auch, warum Unternehmensbesteuerung sich zu einem Problem entwickeln kann: Viele denken: „Die reichen Konzerne, die sollen zahlen!“ – Und tappen dabei genau in die Falle. Unternehmen zahlen keine Steuern! Wer ein Unternehmen zu Steuerzahlungen zwingt, erreicht nur eines: Die Unternehmen geben diese Lasten an die Konsumenten weiter, durch erhöhte Preise. Am Ende ist es wieder der Endverbraucher, dem der Konsumverzicht auferlegt wird – wenn das Unternehmen die Steuern zahlt, zahlt der Bürger die Zeche.

Es ist natürlich bekannt, dass Kritiker dieses Gedankengangs sagen: „Nein, das schmälert den Gewinn der Konzerne, und daher ist es gut für den Konsumenten, wenn Konzerne Steuern zahlen.“ Das ist immer noch nicht richtig. In diesem Fall würde der Unternehmer (also der Kapital-Eigentümer, der die Rendite am Ende bekommt) die Zeche zahlen. Diese Rechnung geht nur zum Teil auf: Der Unternehmer wird die Preise erhöhen, denn er muss den Gewinn seiner Firma sichern. Möglicherweise wird er auch die Rücklagen reduzieren, das Eigenkapital schwächen oder Investitionen kürzen – alles Maßnahmen, die dann auf Kosten zum Beispiel von Arbeitsplätzen gehen. Und dann zahlt wieder der „kleine Mann“, nicht der „Kapitalist“. Aber ein Randeffekt ist sehr heftig – und am Ende für alle sehr teuer, nicht nur fiskalisch, auch gesellschaftlich: Die Unternehmen versuchen, ihrer Steuerlast zu entkommen. Das ist nicht nur ihr gutes politisches Recht – es ist auch ihre verdammte wirtschaftliche Pflicht, und wer hinter dem Rechtsstaat steht, kann auch nichts dagegen haben. Aber wenn das Unternehmen viel Geld dafür ausgibt, und möglicherweise sogar wirtschaftliche Entscheidungen aus steuerrechtlichen Gründen trifft, dann verliert das Unternehmen Effizienz – was sich am Ende als eine Art „Reibungssteuer“ auf alle auswirkt. Bürokratie kostet Wohlstand! - Kurz: Wir würden alle profitieren, wenn wir endlich akzeptieren würden, dass Unternehmen keine Steuern zahlen können, weil sie nicht konsumieren (sondern investieren und produzieren), und dass jegliche steuerliche Belastung für sie nur zu zwei (unerwünschten) Nebenerscheinungen führt: Bürokratie und Verschleierung von wirklichen Steuerbelastungen.

Existenzminimum, Steuerfreibetrag und Hartz IV
Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass der Staat jedem Bürger, der seine Existenz nicht selbst sichern kann (nicht: will!) ein Leben ermöglicht, in dem seine Würde gewahrt bleibt. Das führt zu einer vom Gesetzgeber zu bestimmenden finanziellen Ausstattung – das sozialhilferechtliche Existenzminimum. Gleichzeitig hat das Bundesverfassungsgericht schon vor Jahren entschieden, dass das steuerrechtliche Existenzminimum auch nicht niedriger sein darf – sprich: Jemand, der arbeitet, darf nicht auf einen Lohnanteil Steuern zahlen müssen, den ein anderer (steuerfrei) vom Staat als Hilfe bekommt. Das ist schlüssig. Es führt dazu, dass sozialgesetzliches und steuerrechtliches Existenzminimum einander bedingen – damit ist über Hartz IV auch die Obergrenze für steuerfreie Einkommen festgelegt (Grundfreibetrag).

Genau genommen haben wir damit drei Abstufungen des Existenzminimums: Das, was einem Menschen als Hilfe zusteht, der nicht gewillt ist, zu arbeiten, und die zur Aufnahme einer Arbeit nötigen Schritte unterlässt: Er bekommt auf seine Hartz-IV-Leistungen Abzüge, aber er bekommt soziale Leistung. Das ist das wirkliche Minimum in der Gesellschaft. Dann haben wir den Hilfebedürftigen, der versucht, so gut er kann, auf eigenen Beinen zu stehen, es aber nicht schafft. In dieser Zeit steht ihm der volle Hartz-IV-Regelsatz zu, außerdem die Unterstützung beim Wohnen (im Wesentlichen wird also die Warmmiete vom Staat getragen) - seine Bedürfnisse sind auch höher als die des Arbeitsunwilligen, denn er muss immer in den Stand gesetzt werden, auch erfolgreich Arbeit suchen zu können. Das bedingt zum Beispiel eine entsprechende Kleidung, mitunter also Anzug und Krawatte, ein gewisses Maß an Mobilität und einiges mehr. Und es ist aus Sicht der Leistungsfähigkeit sinnvoll, ihn ohnehim materiell besser zu stellen als den Leistungsverweigerer. Und in der nächsten Stufe haben wir den, der aus eigener Kraft sein Leben bestreiten kann, aber dabei keinen nennenswert höheren Beitrag erwirtschaften kann, als er eben gerade selbst zum Leben braucht. Ein solcher Bürger mit Niedriglohn muss auf jeden Fall von der Steuerlast freigestellt werden (Grundfreibetrag). Dazwischen gibt es eine Übergangszone („Hartz-IV-Aufstocker“). Bürger, die gerade den Grundfreibetrag selbst erwirtschaften, aber nicht mehr, sind dadurch benachteiligt: Sie arbeiten, Leisten also etwas und entlasten damit auf jeden Fall den Staat, haben aber materiell keinen Vorteil gegenüber einem Hartz-IV-Bezieher. Die Aufnahme einer Arbeit ist unter diesen Umständen für eine Person nicht wirtschaftlich.

Der Lohnabstand: Steuerzahler und Transferempfänger
Dieser Gedanke führt uns weiter zum Lohnabstandsgebot: Es ist klar, dass ein Arbeitnehmer, der 40 Stunden die Woche arbeiten geht, sich benachteiligt fühlt, wenn er materiell nicht besser gestellt ist als ein Transferempfänger. Das Lohnabstandsgebot hat wegen dieses wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhangs daher durchaus einen grundsätzlichen Charakter – wenn auch (anders als vielfach angenommen) keinen grundgesetzlichen. Denn rechtlich kommt das Lohnabstandsgebot aus dem Sozialgesetzbuch, und auch hier spielt es eigentlich keine besonders große Rolle. Dass es dennoch in der öffentlichen Debatte so wichtig ist, zeigt, welche hohe Bedeutung ihm im sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft wirklich zukommt. Der Gesetzgeber ist also gut beraten, den steuerfreien Grundfreibetrag höher anzusetzen als den vollen Hartz-IV-Regelsatz (einschließlich der durchschnittlichen weiteren Leistungen wie Warmmiete).

Anfang 2010 hatte der Bundesaußenminister und FDP-Bundesvorsitzende Guido Westerwelle eine vielfach polemisch geführte Diskussion ausgelöst, als er die Behauptung aufstellte, dass das Lohnabstandsgebot in vielen Fällen nicht eingehalten würde. Gewerkschaften, Sozialverbände und die parlamentarische Opposition wiesen das empört zurück. Die Medien nahmen dazu unterschiedlich Stellung – der Bürger blieb verunsichert zurück: Wird das Lohnabstandsgebot eingehalten?

Das einzige Gesetz, in dem sich das Lohnabstandsgebot findet, ist das Sozialgesetzbuch (§ 28 Abs. 4 SGB XII). Das SGB geht von einer Alleinernährerfamilie mit drei Kindern aus und legt fest, dass der Regelsatz unterhalb der „monatlichen durchschnittlichen Nettoarbeitsentgelten unterer Lohn- und Gehaltsgruppen“ sein soll. Es ist also nicht garantiert, dass bei einem unterdurchschnittlichen Arbeitslohn das Lohnabstandsgebot eingehalten wird, außerdem besteht die Möglichkeit, dass in anderen Konstellationen (Anzahl Kinder, andere Partnerschaftsverhältnisse) die Verdiener gegenüber der Mindestsicherung ins Hintertreffen geraten. Und drittens gibt es besondere Effekte, die man einbeziehen muss, wenn man feststellen möchte, ob sich manche Beschäftigungsverhältnisse wirtschaftlich lohnen.
Der Reihe nach: Gerade nach Westerwelles sozialpolitischer Provokation, die mit dem polemischen Hinweis würzte, dass „spätrömische Dekadenz“ drohe, wenn man „anstrengungslosen Wohlstand“ verspreche, wurden viele Modelle durchgerechnet, um dieser Frage auf den Grund zu gehen. So hat der Paritätische Wohlfahrtsverband, der sich immer wieder nachdrücklich für die Interessen von Transferempfängern einsetzt, einige Berechnungen vorgelegt und umfangreich dokumentiert. Dabei fällt auf: Erwartungsgemäß ist der Lohnabstand in Ostdeutschland etwas niedriger als im Westen. Auf den geringsten Lohnabstand kommt eine alleinerziehende Zeitarbeitskraft: Sie hat monatlich 257 Euro mehr als die Mindestsicherung. Bei Familien mit ein bis drei Kindern liegt der Abstand hier um die 270 Euro. Bei Wachleuten, in der Gastronomie und bei Callcenter-Angestellten liegt der Abstand ein paar Euro höher.

Der Lohnabstand wird eingehalten – aber ist das die Antwort auf die eigentliche politische Frage? Die lautet doch eher: Ist der Lohnabstand hoch genug, um Anreize zur Aufnahme einer Beschäftigung zu suchen (siehe unten: Hartz IV, Steuern und das Grundgesetz)? Denn das ist der Sinn der Regelung. Und da muss man nun die besonderen Effekte einbeziehen: So gehört der Fernseher zum Grundrecht auf Information. Entsprechend sind Hartz-IV-Empfänger von der GEZ-Gebühr befreit – Niedrigverdiener nicht. Das verringert die Lücke bereits um knapp 24 Euro. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass ein Niedrigverdiener mit einer Vollzeitstelle in der Regel ein Fortbewegungsmittel braucht, um zur Arbeit zu kommen. Und vor allem bei der Gruppe, bei der der Lohnabstand ohnehin am niedrigsten ist, nämlich bei den Alleinerziehern, kommen meist Kinderbetreuungskosten dazu. Der Lohnabstand schrumpft dann leicht auf deutlich unter 200 Euro. Außerdem gibt es weitere Leistungen (zum Beispiel Sachbezüge, begünstigte Kredite, Eintrittsermäßigungen), die alle für Niedriglohnempfänger nicht gewährt werden - das verringert den Lohnabstand weiter.

Grob überschlagen haben die kritischen Lohngruppen bei 170 monatlichen Arbeitsstunden also gegenüber Transferempfängern einen finanziellen Vorteil von vielleicht einem Euro je geleisteter Arbeitsstunde. In einer vierköpfigen Familie reduziert sich das pro Kopf auf 25 Cent. Ob dieser Lohnabstand als Anreiz ausreicht, jeden Morgen aufzustehen und zur Arbeit zu gehen? Inzwischen hat sich die Diskussion weiterentwickelt – auch die Sozialverbände und die parlamentarische Opposition räumen inzwischen ein, dass der Lohnabstand in vielen Fällen zu gering ist. Nur die Antwort fällt anders aus als bei Westerwelle: Während der FDP-Chef sich eine Reduzierung der Regelsätze vorstellen kann, setzt die Opposition auf ein Mindestlohngesetz. Und das ist dann wieder ein ganz andere Diskussion.

Hartz IV, Steuern und das Grundgesetz
Das Verfassungsgericht leitet den Anspruch eines Hartz-IV-Empfängers (genau genommen: eines jeden Deutschen – und wer das aus eigener Kraft nicht schafft, muss Hartz IV bekommen) aus der zwei Artikeln des Grundgesetzes her: Aus der Unantastbarkeit der Würde des Menschen (Art. 1 GG) und aus dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20, 1, GG). Zugegeben, das sind zwei Artikel, die wegen ihrer „Gummi-Eigenschaften“ immer wieder auch in der Kritik sind. Aber dennoch: Das höchste deutsche Gericht folgert daraus, dass jedem Hilfsbedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zuzusichern sind, „die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind“.

Andererseits ist Steuerrecht Eingriffsrecht – auch das ist Auffassung des Bundesverfassungsgerichts (und unstrittig): BVerfG, Entscheidung vom 20.12.1966 1 BvR 320/57, 1 BvR 70/63, BVerfGE 21, 12, 27, BStBl III 1967, 7. Gleichzeitig wird vom Gesetzgeber gefordert, dass die Steuererhebung gleichmäßig und nach Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen erfolgen soll: Beides folgt aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 3 GG). In der Weimarer Verfassung stand das sogar explizit – aber die Väter des Grundgesetzes hatten in ihrer Weisheit wohl geahnt, dass das Hereinschreiben von ausdrücklichen Steuerrechtsgeschichten für das Grundgesetz nicht gesund wäre …

Meiner Ansicht nach muss heute daraus auch gefolgert werden, dass der Staat nicht – zu Lasten aller anderen Bürger – einzelne leichtfertig aus der Steuerpflicht entlassen darf, wie er es täte, wenn die Aufnahme einer steuerpflichtigen Tätigkeit dem Steuerpflichtigen keinen Vorteil gegenüber der Beziehung von Sozialleistungen verspräche. Insofern muss der Staat m.E. für einen ausreichenden Lohnabstand zu Transferleistungen sorgen – auch wenn das nicht ausdrücklich im Grundgesetz geregelt ist (wohl aber im Sozialgesetzbuch: § 28 Abs. 4 SGB XII - siehe oben).

Transferleistungen außerhalb des Steuerrechts
Hier kommen wir wieder auf den grundsätzlichen Aspekt des Steuerzahlens, der hier Ausgangspunkt war: Das volkswirtschaftliche Wesen des Steuerrechts. So grundsätzlich betrachtet heißt Steuerzahlen nichts anderes als: Ein Bürger erwirtschaftet etwas, nutzt das Erwirtschaftete aber nicht zu 100 Prozent für sich selbst, sondern gibt der Gemeinschaft etwas davon ab (und wieviel? Grundsätzlich betrachtet: Im Durchschnitt das, was man als Staatsquote berechnet, wobei die, die mehr verdienen, auch deutlich über diesem Durchschnitt liegen müssen, weil ja die Nicht-Verdiener bei null liegen). Er macht das, weil er sich davon mehr verspricht, als wenn er alles für sich behalten würde - er bezieht also im Gegenzug staatliche Leistung: zum Beispiel die Sicherheit, das Erwirtschaftete behalten und nutzen zu dürfen. Der Staat hilft ihm zum Beispiel dabei, dass ihm nichts ungerechtfertigt weggenommen wird, und das geschieht über Polizei und Justiz. Auch das Sozialsystem gehört vermutlich dazu: Natürlich könnte auch ein System ohne Sozialleistungen funktionieren, es ist aber wahrscheinlich (und das lehrt auch die Erfahrung aus anderen Ländern), dass sich die Wohlhabenden dann hinter dicken Mauern verstecken müssten - was vermutlich auch wieder als Einschränkung des Lebensstandards betrachtet werden muss. Auch der soziale Friede stellt einen Wert für alle Bürger dar.

Aber so betrachtet kann nur Steuern zahlen, wer auch etwas erwirtschaftet. Wer nichts erwirtschaftet, aber etwas erhält, ist ein Transferempfänger. Aber das Transfersystem läuft gerade in Deutschland nicht nur über das Steuerrecht, sondern auch über ein System, das eigentlich mit Transfers nichts zu tun haben sollte: Über das Versicherungswesen (Krankheit, Arbeitslosigkeit, Rente, Pflegebedürftigkeit etc.). Wer arbeitet, muss höhere Beiträge bezahlen, als er selbst benötigt, damit andere (Transferempfänger) ohne eigene Wirtschaftsleistung kostenfrei versichert sein können. Meine Meinung: Das ist ein ordnungspolitischer Grundfehler: Das macht das Versicherungswesen wie das Steuerrecht intransparent. Das ist auch deutlich daran festzumachen, dass auch Experten sich sehr uneins sind, wie hoch die Transferzahlungen in Deutschland wirklich sind. Am Staatshaushalt alleine jedenfalls lässt sich das bei uns nicht ausmachen. Ein wirklich transparentes System würde den Sozialausgleich konsequent und transparent über das Steuersystem regeln und die Versicherungen ebenso konsequent als das auslegen, wie man sie auch nennt: als Versicherungen. Und um ein an dieser Stelle immer wiederkehrendes Missverständnis gleich aufzuklären: Das heißt überhaupt nicht, dass Transferempfänger keine Versicherungsleistung erhalten würden. Nein, die Versicherungsleistung für alle wäre genauso gesichert wie beim aktuellen System auch - nur über einen anderen, transparenteren Weg. Meiner Meinung nach sogar sozial gerechter: Denn während die Transferanteile im aktuellen System für Vielverdiener gedeckelt sind, wären sie beim konsequenten Steuer-System der Progression in vollem Maße unterworfen. Mithin würden dann die Wohlhabenden und Reichen sogar mehr beitragen - auch zum Wohle der Mittelschicht, die zur Zeit der Hauptträger des Systems ist. Aber das, was ich für richtig halte, ist in Deutschland zur Zeit leider nicht mehrheitsfähig.